John o’Groats Trail – Tag 9 – Ruhetag in Helmsdale

Ruhetag in Helmsdale – Scones, Sturm & Sinnfragen

[04.05.2019]

Abgammeln am Morgen

Wir schlafen aus.
Kein Wecker.
Kein Ziel.
Nur Tee, oder Kaffee.

Im Aufenthaltsraum:
Porridge zum Frühstück für mich.
Ju ist nicht so der Frühstücksmensch,
sie liest sich durch die Hostel-Bibliothek.
Ich schreibe Tagebuch.
Irgendwann: Noch ein Tee, oder Kaffee?
Noch ein Lächeln.
Noch ein Nichts bestimmtes.

Draußen pfeift der Wind ums Haus.
Drinnen: Steckdosen.
Alles wird versorgt:
Powerbanks, Handys, Hirnwindungen.

Kein Zeltabbau.
>Kein Rucksack packen.
>Kein Losmarschieren.
Nur: Sein.
Helmsdale Hostel ist besser als jedes Hilton, in dem ich je war.
Weil es echt ist.
Warm.
Und auf dem Ju-Hügel flattert die schottische Flagge.

Unsere Wandersachen, gestern noch matschversaut,
wandern jetzt durch die Waschmaschine.
Danke, Marie.
Kurze Zeit später flattern sie schon im Garten –
im Wind, der unsere Socken am liebsten nach Orkney tragen würde.
Aber: trocken vor Mittag.
Wieder salonfähig.
Wir ziehen die Leggins aus,
schlüpfen in Normalität.
Wenn man das nach über einer Woche Trail überhaupt noch so nennen kann.

Ju steht am Fenster.
Blick hinauf zum Ginsterhügel –
unser Ju-Berg.
Am liebsten würde sie hoch.
Aber ich schüttle den Kopf.
Zu viel Wind.
Zu wenig Halt.
Gleich ist sowieso unsere Verabredung im Timespan.
Heute bleiben wir unten.
Wurzeln schlagen für einen Tag.

Whiskey für einen Anruf

Kurz vor zwölf, wir wollen gerade aus dem Hostel,
da klingelt das Telefon.
Der Vater – aufgeregt, dankbar, erleichtert.
Wir hatten ihm am Tag zuvor versprochen,
dass wir heute in Helmsdale anzutreffen sind.
Jetzt stehen sie wirklich da:
Vater und Sohn,
pünktlich am Timespan Café.

Wir erkennen uns sofort –
was an den breiten Grinsen liegen könnte.
Und dann:
ziehen sie eine Flasche Whisky aus dem Rucksack.
Als Dank.
Für einen Anruf bei der Polizei
und ein bisschen Kosmos-Karma.

Wir lachen, bedanken uns –
und schauen verlegen auf die Flasche.
Denn: Wir tragen alles auf dem Rücken.
Und Whiskyflaschen zählen nicht zu den Basics.
Aber sie bleiben bei uns.
Nicht auf dem Trail,
aber im Geiste –
und später, im Sommer, holen wir sie ab.
In Hessen, wenn wir sowieso in der Nähe sind.
(Was für eine Welt!)

Im Timespan trinken wir noch gemeinsam Tee,
sprechen kurz über die Scots Pines –
diese knorrigen, alten Kiefern,
die oft als letzte Bäume in den Highlands stehen,
wie Überlebende. Hören, was Vater und Sohn noch vorhaben.
Sie sind mit dem Auto unterwegs,
ambitioniert, strukturiert,
jede Sehenswürdigkeit sitzt,
jede Etappe durchgeplant –
Schottland im Schnelldurchlauf.

Wir hingegen gehen.
Langsam.
Lassen uns treiben.
Nehmen mit, was am Wegesrand auf uns wartet –
Geschichten, Geräusche,
ein abblätterndes Schild,
ein Windstoß mit Bedeutung.
Das meiste davon
sieht man nicht aus dem Autofenster.
Und vielleicht genau deshalb
ist es für uns nicht weniger Schottland,
sondern mehr.

Fazit: Nette Gespräche,
eine Thermoskanne Tee
und das gute Gefühl,
dass man manchmal mit einem kleinen Anruf
Großes auslösen kann.

Kein Geld, aber ein Besuch im Heimatmuseum

Nachdem Vater und Sohn weitergefahren sind, sitzen wir noch im Timespan Café.
Tee.
Scones.
Himmlisch.
Noch einmal süßer Nachgeschmack eines gelungenen Treffens.

Dann der Versuch, Geld abzuheben.
Fehlanzeige.
Irgendeine Stimme aus dem Nirgendwo spricht aus dem Automaten, dann passiert – nichts.
Wird gerade repariert.
Also schieben wir den Museumsbesuch vor.

Das Museum im Timespan überrascht.
Kein trockenes Geschichtsarchiv, sondern ein Ort, der spricht.
>Über Menschen.
>Über Vertreibung.
>Über Überleben.
>Über den Hering.

Ich höre zum ersten Mal, was wirklich hinter dieser Heringszeit steckt:
Die Männer auf dem Meer,
die Frauen an Land –
verarbeiten, einsalzen, stapeln, schuften.
Eine riesige Maschinerie entlang der Küste.
Nicht Glanz, sondern Mühsal.
Nicht Romantik, sondern Not.

Neben all den Informationen bleibt etwas in der Luft.
Ein Bild, ein Gedanke.
Ich weiß nicht was.
Nur:
Es berührt etwas.
Wie ein Licht, das kurz aufflackert.
Als würde mich etwas rufen –
nicht laut, eher wie ein Echo aus Badbea.
Noch ohne Worte.
Noch ohne Sinn.

Wir verlassen das Museum mit mehr Gedanken als erwartet.
Und mit einer temporären Finanzlösung:
Ju hebt Geld ab –
meine Karte funktioniert immer noch nicht.
Sie leiht mir ein paar Pfund,
und grinst:
„Du schuldest mir einen Whiskey.“
Klingt fair.
Also: später in den Supermarkt.

Die Emigranten & Clearances

An unserem Ruhetag lassen wir es ruhig angehen.
Keine Etappe. Kein Ziel.
Nur ein Weg –
zum Clearances-Denkmal oberhalb von Helmsdale.
Wir waren schon einmal dort.
Aber Marie meinte:
„Geht nochmal. Beim zweiten Mal seht ihr mehr.“
Sie sollte recht behalten.

Eine Familie – eingefroren im Moment des Abschieds.
Der Vater blickt hinaus aufs Meer – entschlossen,
bereit für das Neue.
Der Junge folgt seinem Blick – neugierig,
aber noch ohne Verständnis für das Gewicht des Moments.
Die Mutter jedoch –
sie dreht sich zurück zum Land,
der Blick voller Schmerz.
In ihrem Gesicht: Abschied, Verlust,
und die stille Hoffnung,
dass all das nicht umsonst ist.
Angst, Verzweiflung, Hoffnung –
eingemeißelt in Stein.
Und plötzlich verstehen wir:
Dieses Denkmal erzählt mehr,
als jede Tafel es könnte.

Ein Flachmann für den Whisky

Im Supermarkt kaufen wir eine kleine Flasche Whisky –
eine von den ganz Kleinen, mehr gab’s nicht.
Die Auswahl war überschaubar: Pulteney aus Wick.
Aber immerhin: ein ehrlicher Tropfen.
Ab jetzt wird das zur abendlichen Routine:
Ein Schluck Whisky – im Zelt oder im Hostel –
ein stiller Toast auf das, was war.
Und das, was noch kommt.

Auf dem Rückweg zum Hostel lande ich in einem kleinen Laden und kaufe einen Flachmann –
unser Brora-Whisky hat sich längst in unsere Adern verabschiedet.

Natürlich rede ich. Ich kann es einfach nicht lassen.
Der Verkäufer – ein älterer Herr, wettergegerbtes Gesicht,
stellt die Fragen, die hier oben jeder stellt:
„Where are you from?“
„Where are you heading?“

Ich erzähle von unserer Wanderung, vom Trail, vom Denkmal.
Er hört zu, lächelt,
und schenkt uns zum Abschied je eine Postkarte –
mit dem Bild der alten Burg,
die einst an dem Ort stand, wo heute das Clearances-Denkmal steht.

Der Fortschritt kam mit der Straße – der Route 500 –
und überrollte nicht nur Landschaft,
sondern auch Geschichte.
Diesmal aber mit einem schönen Ergebnis:
Ein Ort der Erinnerung,
statt eines Ortes der Macht.

Die Geschichte der Clearances ist hier oben im Norden viel präsenter
als auf all meinen früheren Reisen durch Schottland.
Sie ist nicht nur Geschichte –
sie lebt in Gesprächen, in Denkmälern, in Blicken aufs Meer.
Nur über ihre Schlösser und Ruinen bleiben die Täter in Erinnerung.
Aber eines dieser Schlösser wurde entfernt –
und durch ein Denkmal ersetzt.
Ein Ort, der nicht mehr Macht darstellt,
sondern Erinnerung.
Das finden wir:
ziemlich stark.

Kein Ruhetag für mein Tagebuch

Auf dem Rückweg zum Hostel läuft der Tag langsam aus.
Die Sonne kommt kurz durch.
Helmsdale liegt still unter dem Wind.

Wir werfen einen letzten Blick auf den Busfahrplan.
Und dann fällt es uns auf.
Am Sonntag fährt er erst am späten Nachmittag.

Keine Chance, früh weiterzuziehen.
Dabei hatten wir längst beschlossen, nach Dunbeath zu fahren,
um dort die nächste Etappe zu starten.

Aber das passt.
Der Sturm soll morgen noch zulegen,
und irgendwie fühlt es sich richtig an, noch zu bleiben.
Helmsdale hält uns fest – für einen Wandertag, den wir nicht geplant hatten.

Aber das passt.
Der Sturm soll noch heftiger werden,
und wir haben ohnehin das Gefühl,
dass uns dieser Ort noch nicht loslassen will.

Dann sehen wir ihn:
auf der anderen Straßenseite, an der Route 500 –
ein Mann mit kleinem Rucksack.
Er humpelt.
Deutlich.
Kommt aus Richtung Berriedale.
Sein Gesicht sieht gequält aus,
als hätte er gerade etwas durchgestanden –
aber was genau, das bleibt offen.

Wir schauen uns an.
Ein kurzer Moment Stille.
Und ich denke:
Wo ist der wohl langgelaufen? Was hat er erlebt?
Kommt er herüber zu uns und übernachtet im Hostel?
Nein, er humpelt weiter die Straße hinunter.

Ich schreibe noch ein wenig

Denn ganz ehrlich:
Ich schaffe es selten, am Abend den ganzen Tag aufzuschreiben.
Nur die wichtigsten Eckpunkte –
damit nichts verloren geht.

Aber heute, am Ruhetag,
habe ich es geschafft.
Zwei Tage nachgearbeitet,
Seite um Seite mit Erinnerungen gefüllt.
Die Worte sprudeln.
Als wollten sie unbedingt raus,
bevor sie sich verstecken.

Ju hat sich derweil im Zimmer ein wenig ausgeruht.
Vielleicht hat sie geschlafen,
vielleicht einfach nur das Blumenbild über ihrem Bett betrachtet –
das sie später sogar fotografiert hat.
(Weil’s schön war. Und ruhig.)

Draußen pfeift immer noch der Wind.
Drinnen summt der Wasserkocher.
Das Hostel ist ruhig.
Fast leer.
Aber nicht leer in uns.

Ein Tag ohne Strecke –
und doch mit viel Weg.

Dinner im Timespan – oder: Ein Land geht immer durch den Magen

Um 18 Uhr sind wir zurück im Timespan.
Diesmal nicht für Tee,
nicht fürs Museum –
sondern fürs Abendessen.
The Prague Shack at River Café heißt das Dinner –
eine wilde Mischung aus tschechischer Seele, schottischen Zutaten
und dem, was man wohl als experimentelle Heimatküche bezeichnen könnte.

Wir hatten am Nachmittag reserviert.
Denn ein Land lernt man nicht nur über die Füße kennen,
sondern auch über den Gaumen.

Vorspeise: Veggie-Haggis-Burger.
Ein echter Brückenschlag zwischen Tradition und vegetarischer Neuzeit.
Hauptgang: Kartoffelpüree mit gebratenen Zwiebeln und Pilzen –
simpel, warm, erdig.
Nachspeise: Eine Himbeercreme,
die uns wortlos macht.
Säuerlich, süß, genau richtig.

Der wütende Wanderer im Pub

Auf dem Rückweg vom Timespan sage ich noch zu Ju:
Irgendwie seltsam – heute weniger Eindrücke als sonst.“
Ein fast ruhiger Tag.
Aber das ändert sich schnell.

Ju meint: „Dann lass uns doch noch auf einen Whisky in den Pub.
Und so landen wir wieder im  Bannockburn Inn
beim Tagesausklang in gedämpftem Licht
und mit einem Whiskey in der Hand.

Und wen treffen wir dort?
Den humpelnden Mann vom Nachmittag.
Mit kleinem Rucksack und gequältem Gesicht –
jetzt mit Pint in der Hand
und ordentlich Wut im Bauch.

Er schimpft.
>Über den Trail.
>Über die Streckenführung.
>Über nasse Wiesen, fehlende Markierungen und zerkratzte Beine.
Don’t do it!“, sagt er.
Immer wieder.

Ich lasse ihn reden.
Ju zieht sich dezent zurück.
Mir bleibt nur: zuhören.
Ich habe mich dazugesetzt.
Also halte ich durch.

Dann erzähle ich.
Von unserem Weg.
Dass wir bis Dunbeath gekommen sind.
Mit Zeit, mit Pausen, mit Umwegen.
Dass wir schwere Rucksäcke schleppen (meistens – grins) und manche Etappe doppelt fühlen.
Aber dass wir es genau deshalb machen.
Weil es eben unser Weg ist –
und nicht der schnellste.

Er hört zu.
Wenigstens das.
Dann erzählt er von seiner Frau,
die kürzlich gestorben ist.
Und dass er deshalb läuft.
Von John o’Groats nach Land’s End –
aus Charity-Gründen.
25 Meilen pro Tag.
Vorgebucht, durchgetaktet, keine Luft zum Staunen.

Der Club der 60-Jährigen

Am Nebentisch schmunzeln lautlos zwei Männer,
sie haben das Gespräch mitverfolgt.
Auf ihren T-Shirts: JoGLE
auch sie unterwegs vom hohen Norden nach ganz unten,
von Unterkunft zu Unterkunft.

Wir kommen ins Gespräch.
Und stellen fest:
Alle vier – 60 Jahre alt. Auch der wütende Wanderer.
Naja – bis auf Ju.
Die ist fast noch ein junger Hüpfer.
Im Alter meiner Tochter.

Nur eben:
Jeder auf seinem Weg.
Einer wütend,
zwei entspannt,
wir irgendwo dazwischen –
aber mit offenen Augen.

Und dann liegt sie plötzlich unausgesprochen im Raum:
Die Frage, die sich irgendwann jeder stellt:
Schaffe ich das noch mit 60?

Die Antwort ist einfach:
Wir tun es gerade.
Mit Knien, die knacken,
mit Rücken, die manchmal fluchen,
und mit Herzen, die genau wissen,
warum wir losgegangen sind.

Wir machen es. Punkt.

Und dann wird es wieder leise in uns.

Manche Menschen brauchen viele Kilometer,
um zu sich selbst zu kommen.
Andere finden sich schon im ersten Graupelschauer.
Und wieder andere stehen einfach nur still,
und schauen aufs Meer.

Was für ein Finale
für diesen winddurchpusteten, „sconeverwöhnten“ Ruhetag.

Abendruhe – mit Feuer und Gedanken

Im Hostel ist es warm.
Im Ofen knackt das Feuer.
Ju zieht sich zurück – der Tag war lang, der Wind heftig.
Ich bin noch zu aufgekratzt zum Schlafen.

Im großen Aufenthaltsraum flackert das Feuer.
Knackt, züngelt, wärmt.
Der hohe Raum mit seinen großen Fenstern verliert jede Kühle –
durch nichts entsteht Gemütlichkeit schneller
als durch ein echtes Feuer.

Ju zieht sich zurück – der Tag war lang, der Wind heftig.
Ich bin noch zu aufgekratzt zum Schlafen
Ich bleibe.
Setze mich ins tiefe Ledersofa direkt vor den Ofen.
Die Wärme steigt durch die Socken.
Ich ziehe die Beine an.
Tagebuch auf dem Schoß.

Und schreibe.
>Über den wütenden Wanderer.
>Über JoGLE-Shirts und wunde Füße.
>Über Wege, die Menschen gehen –
aus Trauer, aus Trotz, aus Freiheit.

Draußen heult der Wind weiter an der Fassade,
drinnen sammle ich Gedanken.
Und während ich schreibe,
schließt sich ein Bogen dieses Tages.
Langsam.

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